Geleitwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen
zu dem Buch von Manfred Hermanns „Weltweiter Dienst am Menschen unterwegs. Auswandererberatung und Auswandererfürsorge durch das Raphaels-Werk 1871-201“
Aus- und Einwanderungsbewegungen gibt es von Beginn der Menschheitsgeschichte an. Die ersten Erzählungen der Bibel sind bestimmt von Menschen, die sich auf den Weg machen. Abraham macht sich auf den Weg, weil er von Gott dazu aufgerufen wird (Gen. 12). Zwei Generationen später fliehen Jakob und seine Söhne vor einer Hungersnot nach Ägypten, um sich dort niederzulassen (Gen. 46). Nachdem die politische Bedrückung dort aber zu groß ist, ziehen die Nachkommen Jakobs, das Volk Israel, von dort wieder zurück in das Land ihrer Vorfahren (Ex. 12). Auch im weiteren Verlauf der Bibel kommt es immer wieder zu Wanderungsbewegungen, freiwillig oder erzwungen.
In den Geschichten der Bibel erkennen wir Motive für Aus- und Einwanderung, wie sie bis heute prägend sind: wirtschaftliche Not und Hunger, religiöse bzw. politische Unterdrückung, Krieg und Gewalt, persönliches Glückstreben. Diese Motive haben in der Neuzeit dafür gesorgt, dass sich viele Menschen aus ganz Europa auf den Weg in die Ferne machten. Wenn uns heute auch vor allem die große Zahl an deutschen Staatsbürgern, die ab dem 19. Jahrhundert nach Nordamerika ausgewandert ist, im Bewusstsein sind, so zog es doch Menschen aus ganz Europa in alle Erdteile: West, Ost und Süd.
Es ist einer beeindruckenden Laieninitiative zu verdanken, dass 1871 das Raphaels-Werk gegründet wurde, womit die politischen und karitativen Initiativen des katholischen Kaufmanns Peter Paul Cahensly ein institutionelles Standbein erhielten. Die Situation der Auswanderer war zu dieser Zeit besonders schwierig, sowohl am Ort ihrer Ausschiffung als auch auf den Schiffen und an den jeweiligen Zielhäfen. Cahensly setzte der sozialen, sittlichen und religiösen Not der Menschen ein Netzwerk von Vertrauenspersonen entgegen. Dieses unterstützte die Migranten auf allen Stationen ihrer langen und gefährlichen Reise. Das Netzwerk des Raphaels-Werkes half mit, Ausbeutung, Verschleppung und Menschenhandel im Umfeld von Aus- und Einwanderung zu unterbinden.
Von Beginn an war das Raphaels-Werk global organisiert. Globalität war sozusagen ein notwendiges Markenzeichen des Werkes, das in seinen Aktivitäten die weltweite Verstreuung der europäischen Völker nachbildete. Dadurch schuf es auf eindrückliche Weise karitative Anknüpfungspunkte der katholischen Kirche, die zahllosen Menschen Hilfe anboten. Das Raphaels-Werk war und ist im doppelten Sinn katholisch: katholisch im Sinne seines konfessionellen Hintergrunds und katholisch im Sinne seiner weltweiten Präsenz unter den Menschen.
Eine wichtige Gestalt des Raphaels-Werk im 20. Jahrhundert war der Pallotiner Pater Max Größer SAC. Von 1930 bis 1940 war er dessen Generalsekretär. Für die Migrantenhilfe in Deutschland war dies eine äußerst schwierige Zeit. Pater Größers Bemühungen für Katholiken mit jüdischem Familienhintergrund rettete zahllosen Menschen das Leben. Dieser Einsatz und schließlich das Verbot des Raphaels-Werk im Jahre 1941 machen auf besondere Weise deutlich, dass das Engagement für Ein- und Auswanderer stets sehr politisch ist. Wo Menschen in großer Zahl Grenzen überschreiten und für sich eine neue Heimat suchen, da ruft das staatliche Behörden auf den Plan. Das gilt für das späte 19. Jahrhundert genauso wie für das frühe 21. Jahrhundert.
Die Beratung für auswanderungswillige Deutsche und Rückkehrer auf der einen Seite und die Unterstützung von nicht-deutschen Flüchtlingen auf der anderen Seite bilden heute das hauptsächliche Arbeitsfeld des Raphaels-Werks. Es kommt damit einem zentralen christlichen Anliegen nach, nämlich der Sorge um Flüchtlinge und Migranten, die in besonderem Maße Gefahren ausgesetzt sind.
Ich freue mich, dass Herr Professor Dr. Manfred Hermanns sich die Mühe gemacht hat, die Geschichte des Werks nachzuzeichnen. Für seine kompetente Darstellung bin ich ihm dankbar. Viele werden die vorliegende Studie schätzen. Entstanden ist nämlich eine gut lesbare „Biographie“ einer Organisation, die auf herausragende Weise Katholizität und Caritas der Kirche miteinander verschmolzen hat.